So stell ich mir eine Landschaftsgöttin in Schweden oder in Finnland vor!
Die Alte zählt schon mehrere hundert Jahre und ist reich! Sie verbirgt Schätze in den Bergen. Sie raucht Moos aus ihrer Pfeife, trägt Schuhe aus Birkenrinde, sie ist ungezähmt wie der Schneesturm und so stark wie ein Wasserfall. Auf saftigen Wiesen weiden ihre Herden mit goldgehörnten Kühen. Sie beugt sich vor niemandem, kann Hagelwetter heraufbeschwören und den Blitzstrahl lenken. Sie singt Zauberlieder, braut Tränke und versteht sich auf die Heilkraft der Kräuter. Ihre Väter haben sie alt gesehen, als sie selbst noch jung waren. Und sie ist auch jetzt noch nicht tot….
Eine meiner Lieblingsautorinnen ist Selma Lagerlöf. Sie erhielt 1909 als erste Frau den Nobelpreis für Literatur. Ihr verdanken wir die wundervolle Geschichte von Nils Holgerson.
In dem Buch Gösta Berling erzählt sie von der Hexe aus Dovre, die genau so ambivalent erscheint wie Göttinnen der schwedischen Landschaft eben sind.
Bevor Selma Lagerlöf der Nobelpreis verliehen wurde, gab es Überlegungen, ob ihr dieser zustünde, wo sie doch einen so starken Hang zum Magischen habe. Als ihr die Ehre dann doch zuteil wurde, sagte sie bei ihrer Rede, dass sie vieles von Landstreichern und alten Frauen gehört habe, die ihr als Kind all die Geschichten von Trollen und verzauberten Mädchen erzählten.
Selma Lagerlöf schöpfte aus uralten
Überlieferungen, die in der Erzähltradition ihres Volkes noch lebendig waren. Hört nun einen Teil der spannenden Geschichte der Hexe von Dovre:
Die Hexe von Dovre
Nun spukt die Hexe von Dovre am Ufer des Löfven (das ist ein See der heute Fryken genannt wird). Dort hat man sie gesehen, klein und bucklig, in einem Lederkittel und mit einem silberbeschlagenen Gürtel. Warum kommt sie aus den Wolfsgruben in die Welt der Menschen? Was sucht die Alte vom Hochgebirge in den grünen Tälern?
Sie bettelt. Sie ist geizig und trotz ihres Reichtums auf Gaben erpicht. In den Bergklüften verbirgt die Alte schwere Silberbarren, und auf saftigen Wiesen tief im Gebirge weiden in großen Herden ihre schwarzen, goldgehörnten Kühe. Und doch geht sie in Schuhen aus Birkenrinde und einem fettigen Lederkittel, dessen bunte Kante unter hundertjährigem Schmutze kaum noch zu erkennen ist. Sie raucht Moos in ihrer Pfeife und bettelt selbst die Allerärmsten an. O pfui, wer mag einem solchen Weibe etwas geben, das nie dankt und nie genug bekommt!
Sie ist sehr alt. Ist wohl jemals der rosige Schimmer der Jugend auf diesem breiten Gesicht gelegen, auf der braunen, fettglänzenden Haut, über der platten Nase und den schmalen Augen, die in dem Schmutz leuchten wie Kohlen aus grauer Asche heraus? Wie lange ist es her, daß sie als junge Dirne droben auf der Alm saß und die Liebeslieder der Hirtenknaben mit den Tönen des Alphorns beantwortete?
Sie ist mehrere hundert Jahre alt. Die ältesten Leute können sich nicht erinnern, daß es eine Zeit gegeben hat, wo sie nicht im Lande umherwanderte. Ihre Väter haben sie alt gesehen, als sie selbst noch jung waren. Und sie ist auch jetzt noch nicht tot. Ich selbst, die dieses schreibe, habe sie gesehen.
Sie ist mächtig; die Tochter der zauberkundigen Finnen beugt sich vor niemandem. Ihre breiten Füße drücken keine ängstlichen Spuren in die kiesbedeckte Landstraße. Sie kann ein Hagelwetter heraufbeschwören und den Blitzstrahl lenken. Sie kann Herden irreleiten und den Wolf unter die Schafe schicken. Wenig Gutes bringt sie zustande, aber umso mehr Böses. Der Mensch tut am besten, wenn er sich gut mit ihr stellt. Und bettelt sie dir auch deine letzte Ziege ab und verlangt noch einen ganzen Pack Wolle obendrein, gib ihr beides, sonst stürzt ein Pferd, sonnst brennt dein Haus, sonst fällt deine Kuh, sonst stirbt dein Kind, sonst verliert deine sparsame Hausfrau den Verstand.
Sie ist nirgends willkommen; und doch ist es am besten, sie mit freundlicher Miene zu empfangen. Wer weiß, um welches Menschen willen die Unheilbringende das Tal durchstreift? Sie kommt nicht nur , um den Bettelsack zu füllen. Böse Zeichen begleiten sie; der Heerwurm zeigt sich, Füchse und Wölfe heulen unheimlich in der Dämmerstunde, rote und schwarze Schnecken, die Eiter speien , kriechen aus dem Walde heraus und bis an die Türschwellen.
Sie ist stolz. In ihrem Kopfe lebt die mächtige Weisheit der Vorväter. So etwas gibt ein gewisses Bewußtsein. Wertvolle Runen sind auf ihrem Stab eingeritzt. Sie kann Zauberlieder singen, Tränke brauen, sie versteht sich auf die Heilkraft der Kräuter, sie kann übers Wasser hinüber Zauberschüsse abfeuern und Sturmknoten schürzen.
Könnte ich nur die Gedanken dieses vielhundertjährigen Gehirns deuten…
Selma Lagerlöf, Gösta Berling, München 1948, S 322-323
Bildquelle – Französische Märchen, Illustriert von Ota Janecek, Verlag Werner Dausien, 1970 Artia Prag, S 183
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